Rezension vom März 2024
Erzählung
Erste Buchausgabe 1980
Gelesene Ausgabe: Diogenes Verlag
Auflage 1984
96 Seiten
Die Werke Süskinds
Das bekannteste Werk von Patrick Süskind, dem öffentlichkeitsscheuen deutschen Autor, über den nicht viel bekannt und auch nicht viel nachzulesen ist, trägt den Titel "Das Parfum", ein Roman, der eigentlich in keiner Bibliothek fehlen darf und, ich muss gestehen, immer noch auf meiner Leseliste steht. Als ich vor etwas mehr als einem Jahr Patrick Süskinds Novelle Die Taube gelesen und hier auf bookstories vorgestellt habe, hätte ich mich am liebsten gleich dem Parfum zugewandt, doch dann kamen mir andere Bücher in die Hand, und ich legte Patrick Süskind wieder zur Seite. Auf das nur 96 Seiten umfassende Werk "Der Kontrabass", das Süskind 1980 schrieb, und das im September 1981 im Cuvilliérstheater in München als Theaterstück uraufgeführt wurde, machte mich ein Freund aufmerksam, als ich ihm von der Taube berichtete. Und wie der Zufall es will, entdeckte ich es vor kurzem im Gebrauchtbuchladen meines Vertrauens.
Portraitierung der besonderen Art
"Der Kontrabass" ist nicht vergleichbar mit "Die Taube". Weder von der Erzählweise her noch von der Sprache. Man ist fast geneigt zu sagen, Patrick Süskind versucht sich hier in einer literarischen Komposition der besonderen Art, und sie ist, wie ich finde, ein wahrer Lesegenuss. Ich kenne kein anderes Werk, in dem ein Musikinstrument zum Gegenstand genommen wird, um den Menschen, der es bedient, zu portraitieren, und um ein Stück Zeitgeschichte und die Gesellschaft kritisch zu beleuchten. Wiederum baut der Autor einen Monolog auf, erzählt diesmal in der Ich-Form, und der Leser wird unmittelbar als Zuhörer beziehungsweise Zuschauer der Szenerie in die Verpflichtung genommen.
Der Leser wird zum Zuschauer
Dies geschieht sofort zu Beginn, mit einem kurzen Abschnitt, der einer Regieanweisung gleichkommt: "Zimmer. Eine Schallplatte wird gespielt, die Zweite Sinfonie von Brahms. Jemand summt mit ...". Dann die Worte: "Moment ... gleich ... - Jetzt! Hören Sie das? Da! Jetzt! Hören Sie's?" Erst dachte ich, der Erzähler würde sich mit einer anderen Person unterhalten, aber dann erkennt man, dass dem Leser diese Rolle zuteil wird wie einem Zuschauer in einem Theaterstück. Der Ich-Erzähler richtet sich an ein visionäres Publikum, und durch die kurzen Szenenbeschreibungen ("Er spielt die tiefste Saite" ... "Er stellt die Musik ab und trinkt" ... "Er rumpelt an seinem Kontrabass"), die immer wieder eingeschoben werden, entsteht eine originelle Komposition, die den Monolog zur Bühnendarstellung werden lässt.
Die andere Seite der Bandbreite
Süskinds Sprache in "Der Kontrabass" erinnert mich an Plenzdorfs "Die neuen Leiden des jungen W." oder Salingers "Der Fänger im Roggen", obwohl die saloppe Ausdrucksweise, die Süskind hier seinem vierunddreissigjährigen Erzähler zuschreibt, um einiges anständiger klingt. Den Namen des Erzählers erfahren wir nicht, nur, dass er Musiker ist, Kontrabass-Spieler im Staatsorchester, in seinem schallgedämpften Musikzimmer sitzt, eine Schallplatte aufgelegt hat und mit einer Lobeshymne auf seinen Kontrabass beginnt. Dieser bilde das gesamte orchestrale Grundgefüge, auf dem das übrige Orchester überhaupt erst fussen könne, Dirigent eingeschlossen. Alles andere sei Gegenpol, werde erst durch den Bass zum Pol. Sopran zum Beispiel. Die andere Seite der gesamten Bandbreite. Sarah heisst sie, die junge Sopranistin an der Oper, die es unserem Erzähler angetan hat, wie wir erfahren.
Facettenreiche Darstellung
Gleich eines Würfelspiels, bei dem die Würfel beim Hinwerfen immer wieder eine andere Seite zeigen, gibt uns der Erzähler auf witzige, komische, faktenfreudige, aber auch melancholische Weise Einblick in seine monotone Karriere als Kontrabassist, in sein verhindertes Liebesleben, und in die Geschichte der klassischen Musik, welche fernab vom Weltgeschehen etwas Menschliches, Metaphysisches in sich trägt, ein Mysterium jenseits von Zeit, Leben und Tod. Vielleicht mag dieses Büchlein für musikalisch bewandte Leser und Kenner der klassischen Musikgeschichte ein besonderer Genuss sein, aber es ist keine Voraussetzung, um über diesen Text fortwährend schmunzeln zu können.
Die Grossen einmal anders
So erfahren wir unter anderem, in welchen Symphonien und in welcher Form Kontrabässe eingesetzt worden sind - Dreisaiter in Quintenstimmung, Vierseiter in Quartenstimmung, dass Schubert ein hochsensibler Mensch gewesen ist, aber kein Virtuose, und mit Nestroy zusammen gesungen hat. Beethoven soll mehrere Klaviere zusammengeschlagen haben, aber nie einen Kontrabass. Allerdings hat er auch keinen gespielt. Oder Mozart, Geige fast so gut beherrschend wie Klavier, überhaupt der einzige grössere Komponist, wird als Musiker weit überschätzt. Hat zwar schon mit acht zu komponieren begonnen, doch konkurrenzlos nur, weil all die Grossen erst nach seiner Zeit gekommen sind. Und dass ein Aufschrei der französischen Kontrabassisten durch die Reihen gegangen ist, als ihnen der germanophile Italiener Cherubini den Dreisaiter weggenommen hat, und dass die Franzosen sowieso immer dabei sind, wenn irgendwo eine revolutionäre Stimmung aufkommt.
Wagners Tragödie
Auch mit Wagner rechnet der Erzähler ab. Ein unangenehmer Mensch sei er gewesen, dieser Wagner, scheissfreundlich, aber unangenehm. Mit der Frau seines Freundes hat er es getrieben, und diese schäbige Verhaltensweise dermassen zur Selbstverachtung geführt, dass daraus die angeblich grösste Liebestragödie Tristan entstanden ist. Vieles wäre uns von Wagner, dessen Partituren von Fehlern nur so strotzen, erspart geblieben, hätte es vor hundertfünfzig Jahren schon Psychoanalyse gegeben. Der Mann hat ja auch kein einziges Instrument gespielt, ausser schlecht Klavier.
Typisches Kontrabassistenschicksal
Was mit einem Loblied auf den Kontrabass beginnt, entwickelt sich zusehends, je mehr Bier der Erzähler während seines verbalisierten Monologes zu sich nimmt, zur Kritik an nahezu allem. Mehr und mehr kristallisiert sich heraus, dass er eigentlich ein einsamer, verbitterter, von Hass erfüllter Mensch ist und sich als Musiker gescheitert sieht. Mit seinem Schicksal, als Beamter im Staatsorchester angestellt zu sein, in unkündbarer Stellung, und aufgrund seines subjektiv empfundenen Liebesmangels in der Kindheit, verkörpere er ein typisches tragisches Kontrabassistenschicksal. Seinen Kollegen ergehe es nicht anders. Nichts Repräsentatives stelle der Kontrabass dar, steht in der Wohnung nur im Weg herum, macht jedes intime Alleinsein mit einer Frau zunichte, da er wie eine Fermate über allem wacht. Als Kontrabassist im Staatsorchester würde er in der Gestalt seines Instrumentes, des grössten weiblichen Instruments, seine eigene Mutter vergewaltigen, dieser ewige inzestuöse symbolische Geschlechtsverkehr sei eine moralische Katastrophe.
Man sieht sie einfach nicht
Und dann ist da eben Sarah. Sarah, die junge Sopranistin im Staatsorchester, in die er sich unsterblich verliebt hat, die aber nichts davon weiss. In den höchsten Tönen spricht er von ihr. Nur kennt sie ihn nicht, hört und sieht ihn nicht während der Konzerte, obwohl er doch jedesmal für sie besonders fehlerfrei und schön zu spielen versucht, was mit einem Kontrabass schwierig ist. Und weil sie sich von irgend so einem fünfzigjährigen Gasttenor in ein Fischlokal einladen lässt, kann er sich kaum noch beherrschen. Dieser Fehlgriff lässt ihn beinahe verrückt werden. Sie, die Frau, die er liebt, geht einfach mit Mehrbesseren in Fischrestaurants. Er fühlt sich in den Hintergrund gedrängt, sieht sich in der Versenkung untergehen. Kontrabassisten werden ja nicht gesehen, ernten nur Verachtung, können sich bei Ovationen nicht einmal richtig erheben wie alle anderen. Und so nimmt der Gedanke Form in ihm an, bei der kommenden Abendvorstellung (man stelle sich den Bierkonsum vor, den er bereits intus hat, um angeblich seinen Flüssigkeitsverlust zu kompensieren) vor dem Einsatz des Orchesters Sarahs Namen in die Stille zu schreien. Einfach etwas zu wagen, auf sich aufmerksam zu machen, sich öffentlich zu seiner Liebe zu Sarah zu bekennen.
Innerlich zugewachsen
Patrick Süskind ist mit "Der Kontrabass" ein herrliches Kabinettstück gelungen. Virtuos spielt er mit Sprache und Worten und kreiert trotz umfangreicher Fachbegriffe aus der Musikwelt eine heiter melancholische Szenerie. Marcel Reich-Ranicki soll gesagt haben, Süskinds Humor, sein diebisches Vergnügen an der Sprache, komme hier zum Ausdruck. Und wieder, wie schon in "Die Taube" scheint sein Protagonist in seiner eigenen Unbeweglichkeit gefangen zu sein. Die Enttäuschung über das Leben, die Vorstellung, von diesem benachteiligt zu werden, und die eigenen Selbstzweifel werden in bitteren Gedanken nach aussen projiziert. Da kommt mir wieder der Begriff "innerlich zugewachsen" in den Sinn, den Süskind schon seiner Figur Jonathan Noel in "Die Taube" zugeschrieben hat.
Meistgespieltes Theaterstück
"Der Kontrabass" wurde als Einakter auf fast allen deutschsprachigen Bühnen aufgeführt und war in der Spielsaison 1984/85 mit über fünfhundert Aufführungen das meistgespielte Theaterstück. Das Buch wird bei Diogenes verlegt und ist im Handel als Taschenbuch und eBook immer noch erhältlich.