Rezension vom August 2024

Der Leuchtturm
Jean-Pierre Abraham

Roman
Originaltitel: Armen
Erste Buchausgabe 1967
Gelesene Ausgabe: Jung und Jung
2. Auflage 2010

159 Seiten



Ar-Men
Der französische Originaltitel von Jean-Pierre Abrahams Werk, das den im Jahr 2003 verstorbenen Schriftsteller in Frankreich bekannt machte, heisst 'Armen'. Ar-Men bedeutet auf Bretonisch Fels. So lautet auch der Name des Leuchtturms, der dreissig Kilometer vor dem westlichsten Zipfel der Bretagne mitten im Atlantik einsam auf einem Felsen steht. Er ist seit 1881 ununterbrochen in Betrieb, und bevor er vor vierunddreissig Jahren automatisiert wurde, bewohnten und warteten ihn Leuchtturmwärter unter den gefährlichsten Arbeitsbedingungen im Kampf gegen die Naturgewalten. 
Hölle der Höllen wird er unter den Seeleuten genannt, doch für Abraham, der in der Zeit von 1959 bis 1964 als Wärter selbst den Grossteil seiner Zeit auf dem Felsen verbrachte, ist es keine Hölle, sondern eine Heimat. Eine Heimat widersprüchlicher Gefühle, denn auf der einen Seite wirkt das Leben im Leuchtturm befreiend auf ihn und schenkt ihm nach Jahren der Sinnsuche Geborgenheit, auf der anderen Seite holt ihn die Einsamkeit ein.


Tagebucheinträge eines Sinnsuchenden
Ich habe in meinem Buch, das ich wie die meisten meiner Bücher im Gebrauchtbuchladen erstanden habe, eine Zeitungsnotiz aus dem Jahr 2011 über Abrahams Werk gefunden, den der Vorbesitzer sich ausgeschnitten und in das Buch gelegt hat. Georg Renöckl, ein österreichischer Autor und Journalist, hat damals, nachdem das Buch erstmals in deutscher Sprache im Jung und Jung Verlag erschien, einen interessanten Artikel über Armen und Abrahmas Tagebuch geschrieben. Denn als Tagebuch könnte man dieses Werk wohl beschreiben, als Erfahrungsbericht eines Leuchtturmwärters und Sinnsuchenden, des Schriftstellers Jean Pierre Abraham selbst, der sich nach seinem Militärdienst auf einem Kriegsschiff für diese Stelle als Leuchtturmwärter bewarb. "Damals dachte ich, über den Ort Bescheid zu wissen", schreibt er. "Hatte das Verlangen, auf diesem Leuchtturm zu leben. Es war die beste Art, ihn nicht mehr zu sehen."

Ohne mir dessen bewusst zu sein, bin ich in die stumpfen Seelen alter Seemänner vorgedrungen. Letzthin, als ich nach zwanzig Tagen Schicht wieder auf die Insel kam, bewunderte ich sie noch, wie sie allesamt am Nordkai standen, einer neben dem anderen, und auf einen Punkt am Horizont starrten. Ich wähnte sie voller Klugheit und Erinnerungen. Jetzt weiss ich, dass sie bar jedes Gedankens sind. Die See ist durch ihre Augen eingedrungen, hat ihre Köpfe langsam leergeschwemmt.
(S. 9/10)
Die Symbolik des Leuchtturms
Im Frühling dieses Jahres hat der Jung und Jung Verlag das Buch in einer Neuauflage herausgebracht. Es enthält ein Nachwort der Übersetzerin Ingeborg Waldinger, die in meiner Ausgabe von 2010 leider noch fehlt. Ronja hat auf ihrem Blog
oceanloveR das Buch ebenfalls rezensiert und ein paar Worte dieses Nachworts, in dem Waldinger Abrahams Werk deutet, zitiert, sodass ich in den Genuss einiger erklärender Worte komme. Unter anderem über die Symbolik der Leuchttürme, die berühmte Dichter als Daseinsform gewählt haben. Ar-Men soll für Abraham einerseits ein realer Ort der Disziplin, Geduld und Routine gewesen sein, andererseits aber auch ein Ort der Kontemplation, der rettenden Orientierung, der Selbstwerdung. Leuchtturmwärter gelten als Heroen der Einsamkeit.
Abstrakte Selbstreflektionen
Wie den Erzähler in seinen Journalaufzeichnungen widersprüchliche Wahrnehmungen leiten, löst das Buch in mir ebenso ambivalente Empfindungen und Gedanken aus. Hin- und hergerissen wie die Wellen, die an den Leuchtturm prallen, an ihm brechen und ihn von allen Seiten bearbeiten, begeistert mich einmal die dichte und bedrohlich wirkende Atmosphäre, die Abraham vorbildlich zu schaffen weiss, ein anderes Mal fühle ich mich wieder überfordert mit den unverständlichen und abstrakten Formulierungen des Erzählers, der diese oftmals selbst nicht zu ergründen versteht. Es sind Gedankengänge, innere Befindlichkeiten, Momentaufnahmen, Erinnerungen und Bilder des Erzählers, in ebenso kurzen, präzisen und poetischen Sätzen. Sie folgen keiner chronologischen Reihenfolge, manchmal liegen Tage, manchmal nur Stunden zwischen diesen Niederschriften. Lose Fragmente, vermischt mit konkreten Aufzeichnungen über die zu verrichtende Arbeit im Leuchtturm. Einsamkeit und Selbstreflektion.

Vorhin, als ich meine Lampe anzündete, erkannte ich ihren Schein nicht wieder. Der Lichtkreis drängte mich in dem Masse, wie er sich ausweitete, zurück in ein Dunkel fernab der Flamme. Alles, was ich zu Papier bringe, macht mich noch undurchdringlicher. Ich bin mit mir wirklich zurfrieden. Bei der geringsten Geste blocke ich ab, verderbe alles. Man müsste sich selbst aus den Augen verlieren, und ich habe keinerlei Aussicht, dies zu erreichen. (S. 33)
Vermeers Bilder und das Licht
Hinzu kommen die tiefen Reflektionen über das Licht. Das Licht der Petrollampe mit den sich ständig verändernden Schattenspielen an der Wand und den von Moment zu Moment sich ändernden Abstufungen, dieses diffuse graue Licht, das Abraham in allen Nuancen zu beschreiben weiss, das Ausleuchten des kalten Treppenhauses, der verschiedenen Räume, der Gallerie mit dem Leuchtfeuer, das Lichtspiel auf den Abbildungen von Vermeers Bildband, den er mit auf den Leuchtturm genommen hat, Sinnen über Vermeers Bilder, die ihn faszinieren, all das scheint ihn herauszufordern, einzunehmen. Warum? Die Hintergründe bleiben im Dunkeln. Einst durfte Abraham in einem Museum ein Originalgemälde Vermeers bestaunen, seither kommt er nicht mehr davon los.

Irritierend und fesselnd zugleich
Die teilweise unverständlichen Gedankenfragmente, die stark an einen poetischen Lyrikband erinnern, wollten mich mehrmals davon abhalten, weiterzulesen, es wäre das erste Buch gewesen, das ich abgebrochen hätte. Umgekehrt fesselte mich diese dichte, beklemmende Atmosphäre – zwei in einem Leuchtturm Gefangene, die sich in Tages- und Nachtschichten mit der Arbeit abwechseln, dafür besorgt sind, dass das Leuchtfeuer zur richtigen Zeit angezündet, am Brennen bleibt und wieder gelöscht wird, bei starkem Nebel muss auch die Sirene in Betrieb genommen werden. Man behält die Wetterverhältnisse im Auge, muss kleinste Anzeichen registrieren und bereit sein für das unheilschwanger Kommende. Man spricht kaum miteinander, doch die Arbeit geht Hand in Hand. Wenn der eine schlafen geht, steht der andere auf. Man vertraut und kennt einander.


Ein langer Winter im tobenden Atlantik
Zu zweit arbeiten sie im Leuchtturm. Zu dritt wechseln sie ihre Schichten. Der Erzähler, Martin und Clet, die beiden anderen Wärter. Die Schichten können sich je nach Wetter in die Länge ziehen, denn die rauhe See ermöglicht nur selten ein Heranfahren von Booten. Da müssen Lücken gefunden werden, in denen das felsige Plateau, auf dem der Turm erbaut wurde, ohne Zwischenfall erreicht werden kann. Zehn Tage dauern in der Regel die Landgänge auf der nahegelegenen Insel, dann folgt die nächste Schicht. Die Aufzeichnungen des Buches beginnen im November eines unbekannten Jahres und enden im Mai des darauffolgenden Jahres – irgendein langer Winter im tobenden Atlantik.

Schlechtes Wetter. Ich werde nicht schlafen. Meine Schicht beginnt um Mitternacht. Martin wollte, dass ich früh zu Bett ginge, damit er in aller Heimlichkeit sein Weihnachtsmahl zubereiten könnte. Ich höre ihn oftmals an meiner Tür vorbeikommen - und verhülle das Lampenlicht, um ihm die Freude nicht zu verderben. Er sieht oben nach seinem Feuer, begibt sich wieder in die Küche. Mitunter höre ich dumpf das Klappern der Kochtöpfe. (S. 53/54)
Weihnachten im Leuchtturm
Eine berührende Szene ist der Weihnachtsabend, den der Erzähler und Martin in der Küche des Leuchtturms verbringen, denn der vorgesehene Landgang ist wegen Sturms abgebrochen worden. Bescheidener können Festlichkeit und Stille nicht beschrieben und erlebt werden. Die beiden Wärter nehmen gemeinsam am Holzfeuer eine von Martin zubereitete Mahlzeit ein, es wird ein Rest Rum getrunken und Mundharmonika gespielt und geschwiegen, bis einer wieder in den Wachtraum muss. Die Stimmung, die mit diesen Worten einhergeht, ist romantischer und heiliger als mancher Weihnachtsabend bei Kerzenschein.


Rastlosigkeit und von Unruhe getrieben
Clet ist der zweite Wärter, der zusammen mit dem Erzähler Schichten führt. Er wird seltener erwähnt als Martin. Eine kleine ‘Nebenrolle’ kommt auch Marion zu, den der Erzähler auf seinen Landgängen auf der Insel hin und wieder besucht. Marion zeichnet, um seinem Inneren Ausdruck zu geben. Das Betrachten und schriftliche Kommentieren seiner Zeichnungen gehört wie das Polieren von Messingteilen oder das Sinnen über Vermeers Bilder zu Abrahams Freizeitbeschäftigungen, wenn man sie denn so nennen will, denn all dieses Tun ist von einer quälenden Unruhe begleitet. Diese innere Unruhe ist es denn auch, die ihn dazu bringen, gegen Ende seines Leuchtturm-Einsatzes zusammen mit Martin das Innere des Leutturms in Schuss zu bringen. Abschleifen und Abbeizen, Malen, frischen Kalk auftragen. Der Leuchtturm soll in glänzendem Licht erstrahlen und das durch die Luken einfallende Licht auf natürliche Weise wiedergeben.

Ich bin ganz ruhig. Für den Augenblick herrscht Waffenruhe. Die Schimmer sind in ihrer jetzigen Form wahrhaft unschuldig, von aufrichtiger Tiefe. Noch einmal empfinde ich die Gnade dieser Nacht. Ich habe das Buch über das Zisterzienserkloster heraufgebracht, beschreite das steinerne Gemäuer nun mit neuer Gelassenheit. Jahrelang sind da Menschen im Kreis gewandelt, treppauf, treppab, vom Schlafsaal zur Kirche, von der Kirche zum Kreuzgang, vom Kreuzgang in den Kapitelsaal, fern jedes vernünftigen Lebens. Wie Vieh. (S. 59)
Bemerkenswerte Wortgewandtheit
Jean-Pierre Abrahams Formulierkunst, seine Wortgewandtheit, mit der er Stimmungen, das Zusammenspiel der Elemente von Erde, Wasser und Luft, das Licht als viertes Element schlechthin, aber auch die Stille, die immer irgendwie bedrohlich wirkt, zu beschreiben weiss, ist bemerkenswert. Auf der anderen Seite sind es ebendiese präzisen, poetischen, kurzen Sätze, zwischen denen man irgendwann abhängen möchte und nicht mehr folgen kann, wenn Abraham ins Abstrakte abgleitet. An vielen Stellen des Buches versuchte ich den tieferen Sinn des Niedergeschriebenen zu ergründen, doch irgendwann gab ich auf und erfreute mich einfach der Einträge, welche die Gezeiten beschreiben, die Plackerei, das erschwerliche Dasein auf dem Leuchtturm inmitten tosender Wellen, und die verständlichen Analogien.
Kein vergleichbares Schreckensbild
Die meisten von uns verbinden das Meer mit friedlichen Bildern und entspannten Strandurlauben; nach starken Regenfällen ärgern wir uns über ein bisschen Wasser, das vielleicht irgendwo in einen Kellerraum dringt (ja, das ist ärgerlich), aber wenn wir uns vorstellen, wie diese Leuchtturmwärter Tag ein Tag aus gegen die Naturgewalten ankämpften, wie das Wasser unten das Eingangstor eindrückt, durch das Treppenhaus hochsteigt, die Etagen flutet und bis oben zur Galerie Zimmer für Zimmer verwüstet, wie die Angst, der Turm könnte den Wellen irgendwann nicht mehr standhalten, sie kaum zu Schlaf finden lässt, dann gibt es wohl kein vergleichbares Schreckensbild.
In der Schwärze des Meeres
'Der Leuchtturm' ist ein Erfahrungsbericht. Eine Erfahrungssuche. Der Erzähler gerät an seine Grenzen, lotet diese aus. Im Äusseren wie im Inneren. In der Zeit zwischen Schlaf und Arbeit schreibt er seine Gedanken nieder, die oft von Selbstzweifeln und -sabotage geprägt sind und sinniert über Sinn und Sinnlosigkeit des Daseins. Zufall ist es nicht, dass das kontemplative Klosterdasein der Zisterziensermönche, über das er in einem Buch nachliest, es ihm angetan hat. Abrahams Leuchtturmwärter ist ein Mensch, der einem auch nach über 150 Seiten mit kleinem Schriftbild fremd bleibt. Ich müsste das Buch mehrmals lesen, um ihm näherzukommen, ihn zu verstehen, und selbst dann bleibt wohl einiges, wie in der Schwärze des Meeres, Geheimnis des Autors.
Das Buch wurde im Frühling 2024 vom Jung und Jung Verlag neu aufgelegt und ist gebunden mit Schutzumschlag und als E-Book erhältlich.

1 Kommentar


Ronja - 15. September 2024 um 15.42 Uhr

Ahoi Michael! Was für ein schöner Beitrag über ein besonderes Buch :) Danke auch für die Verlinkung. Liebe Grüße Ronja


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