Rezension vom Januar 2023
Roman
Erste Buchausgabe 2001
Gelesene Ausgabe: Arche Verlag
2. Auflage 2001
187 Seiten
Lange dunkle Wintermonate
Hier in Stamms drittem Roman geht es um Kathrine, eine 28-jährige Frau, die in einem kleinen Dorf in Norwegen weit nördlich des Polarkreises lebt und dort als Zöllnerin russische Trawler, die im Hafen einlaufen, auf Schmugglerware kontrolliert. Sie liebt den Schnee und das Licht, doch die Dunkelheit der langen Wintermonate macht ihr zu schaffen wie so manchen Bewohnern des Dorfes. Während das Leben nach Feierabend in der einzigen Bar des Dorfes stattfindet, ist die Fischfabrik der Ort, wo viele aus dem Dorf arbeiten und das Fischerheim die einzige Pension, in der Seeleute, Fischereiagenten und Monteure ein- und ausgehen.
Auf der Flucht vor sich selbst
Aus erster, gescheiterter Ehe mit Helge hat Kathrine ein Kind, verheiratet sich zum zweiten Mal mit Thomas, dessen Leben, wie Katrhine es vergleicht, ein gezogener Strich in der ungefähren Landschaft ihres eigenen Daseins ist. Thomas ist erfolgreich, hat sein Leben im Griff, bindet sich jedoch stark an seine vermögenden, Bibel treuen Eltern, und als Kathrine ihm eines Nachts beim Joggen folgt und ein trauriges Bild aufdeckt, kommt sie dahinter, dass Thomas' Persona ein einziges Lügengebäude ist. Diese Entdeckung, und die Flucht vor sich selbst, bewegen Kathrine dazu, eines Abends das Schiff Polarlys zu besteigen und das Dorf zu verlassen. Es folgt eine Reise in den Süden, auf der wir Kathrine begleiten, auf der sie zum ersten Mal fremden Personen und der Welt unterhalb des Polarkreises begegnet. Ihr Ziel ist es, Christian, einen Freund, in Paris zu besuchen.
Kathrines Charakter polarisiert
Damals bei der ersten Lektüre fragte ich mich, ob Peter Stamm sich tatsächlich in eine junge Frau hineinzuversetzen mag, ob Leserinnen mit Kathrines Person mitfühlen oder sich sogar identifizieren können. Natürlich ist das kein Muss, doch sollten Hauptfiguren sympathisch sein, es sei denn, der Autor möchte bewusst Figuren erschaffen, die polarisieren. Auf LovelyBooks habe ich mehrere Kurzmeinungen gesichtet, die die Hauptprotagonistin als unsympathisch beschreiben. Wohl aus dem selben Grund, weshalb andere vielleicht mit ihr mitfühlen. Kathrine ist einsam, scheint mit Männern Pech zu haben, lebt ziellos vor sich hin, wird schon früh Mutter und empfindet das Kind als eine Last. Sie heiratet, ohne ihren Mann zu lieben, ihr fehlt der freundschaftliche Aspekt, diesen findet sie in der Beziehung zu einem Jugendfreund.
Sei du wie du, immer
Dagegen ist nichts einzuwenden. Das kann aber auch ins Auge gehen. Unfreiwillig kann Kathrines Charakter auf die körperliche Ebene, auf Abenteuerlust und Oberflächlichkeit reduziert werden. Es sei denn, es ist vom Autor so gewollt. Dort oben in der Dunkelheit nördlich des Polarkreises, was findet man da schon. "Sei du wie du, immer", so lautet das Vorwort des Buches, ein Zitat des Dichters Paul Celan, das Peter Stamm seiner Geschichte vorausschickt. Verbiege dich nicht, passe dich nicht an, setze keine Maske auf. Am Ende geht dies alle Figuren etwas an, die in diesem tristen Theaterstück eine Rolle spielen.